Derzeit erleben wir eine historische Situation. Die Entschlossenheit und Selbstorganisation von Geflüchteten hat die europäischen Grenzen außer Kraft gesetzt und eine Neuausrichtung der europäischen Migrationspolitik erzwungen. Fakt ist, dass die europäischen Außengrenzen immer überwunden wurden und sich Flüchtende sowie Migrant*innen nie haben aufhalten lassen. Die immer stärkere Militarisierung und Abschottung dieser Grenzen hatte „nur“ zur Folge, dass das auf der Flucht erlittene Leid anstieg und immer mehr Menschen ihr Leben verloren. Fakt ist jedoch auch, dass aktuell sehr viel mehr Menschen Deutschland erreichen, als in den vergangenen Jahrzehnten. Dabei flieht nur ein Bruchteil der Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, nach Europa bzw. Deutschland. Der weit größere Teil findet Zuflucht in Nachbarstaaten oder -regionen. Es sind brutale Konflikte und Kriege wie in Libyen, Syrien, Irak, Nigeria, Afghanistan oder Mali, vor denen Menschen fliehen – um nur einige Beispiele zu nennen. Für die meisten dieser Konflikte ist kein Ende in Sicht, da ganze Regionen langfristig destabilisiert sind. Doch auch (neo)koloniale Ausbeutung, die Zerstörung lokaler Wirtschaften durch die Politik der Industriestaaten, Diskriminierung und Rassismus wie im Falle der vom Balkan flüchtenden Roma, Umweltzerstörung und vieles mehr zwingt Menschen zur Flucht. Manche nehmen auch einfach nur ihr Recht wahr, dorthin zu ziehen, wo sie leben möchten.
Es sind die Entschlossenheit und das kollektiv geteilte Wissen der Flüchtenden über die Festung Europa, die im Sommer zum faktischen Fall der europäischen Außengrenzen beigetragen haben. Auf dieses Scheitern ihrer Abschottungspolitik hat insbesondere die deutsche Regierung damit reagiert, sich in der Öffentlichkeit als Willkommensnation zu präsentieren. Dabei hat sie – auch mit Blick auf den Nutzen der zu erwartenden „Fachkräfte“ für den Standort Deutschland – bestehende Ansätze in der Zivilgesellschaft aufgegriffen. Wie wenig Substanz diese offizielle „Wilkommenskultur“ besitzt und wie scheinheilig die Regierung agiert, beweist die Wiedereinführung von Grenzkontrollen, wenige Tage nachdem sich Deutschland für seinen Umgang mit Geflüchteten feiern ließ. Allen staatlichen Inszenierungen zum Trotz, bleibt die vorherrschende Politik gegenüber Geflüchteten und Migrant*innen eine der Abschreckung und der Ablehnung. Erst vor Kurzem wurden in Deutschland gleich mehrere Verschärfungen des Asylrechts verabschiedet, weitere sind in Planung. Um derartige Maßnahmen zu legitimieren, wird versucht, die Geflüchteten in „gute“ und „schlechte“ einzuteilen. Als Sündenböcke sollen zur Zeit die Geflüchteten aus dem Balkan dienen, für die in Teilen Deutschlands bereits Sonderlager eingerichtet werden. Dies trifft vor allem Roma, die wegen rassistischer Anfeindungen und Diskriminierung aus ihrer Heimat geflohen sind. Die fatale Tradition dieser Ausgrenzung einer europäischen Minderheit wird so (auch) in Deutschland weiter fortgeschrieben. Während die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit im Moment auf die in Deutschland ankommenden Flüchtenden gerichtet ist, finden im ganzen Bundesgebiet regelmäßig und massiv Abschiebungen statt; insbesondere von Roma.
Deutsche Regierungen hatten lange darauf vertraut, dass ihr perfides System der Abschottung und Abschreckung funktioniert – beispielsweise durch die Grenzschutzagentur Frontex, die faktische Abschaffung des Asylrechts spätestens seit den 1990er Jahren, oder das Dublin-Abkommen – und nur wenige Menschen Deutschland überhaupt erreichen. Dementsprechend wurden die Kapazitäten zur Unterbringung von Geflüchteten in der Vergangenheit stark zurückgebaut, so auch in der letzten Legislatur des SPD-Senats in Hamburg. Vor dem Hintergrund der lange bekannten Prognosen über steigende Zahlen von Flüchtenden, kann dies nur als kalkulierte Verelendung bezeichnet werden. Gerade die reiche Stadt Hamburg schöpft bei der Versorgung und Unterbringung von Geflüchteten längst nicht alle Möglichkeiten aus. Die hiesigen Behörden unterlaufen bewusst Mindeststandards, so wurde bei der Unterbringung schnell auf Zelte zurückgegriffen und mit der Einrichtung von Massenunterkünften mit 3000 Plätzen begonnen. Diese Form der menschenunwürdigen Unterbringung und die mangelhafte Versorgung ist über den Sommer zum Normalzustand geworden, dessen angebliche Alternativlosigkeit immer wieder betont wird. An fast allen Standorten haben Geflüchtete gegen die Zustände in den Unterkünften protestiert, was bisher kaum öffentlich wahrgenommen wurde. Der Senat hat inzwischen angekündigt, selbst im Winter Menschen in Zelten unter zu bringen. Ein solcher Ausnahmezustand hat handfeste Folgen, denn er wird zur Legitimierung sinkender Standards und der Verschärfungen des Asylrechts herangezogen – welche wiederum Projekte zur Abschreckung von Geflüchteten sind.
Gemeinsam kämpfen – mit Geflüchteten und gegen die kalkulierte Verelendung!
Im November 2014 schlossen sich kämpfende Refugees aus der Gruppe Lampedusa in Hamburg, Aktive aus dem Netzwerk “Recht auf Stadt”, Gewerkschaftsaktivist*innen, Studierende, Schüler*innen, linke Gruppen und andere Initiativen zusammen und gründeten das Bündnis “Recht auf Stadt – Never mind the Papers!”. Gemeinsam treten wir dafür ein, dass grundlegende Rechte unahhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Aufenthaltsstatus garantiert sein müssen. Dazu gehören das Recht auf Arbeit, auf menschenwürdiges Wohnen, auf Gesundheitsversorgung und Bewegungsfreiheit und das Recht zu Bleiben für Alle. Wir kämpfen für eine Stadt, in der Alle die gleichen Rechte haben.
Wir, die in der Stadt jeden Tag mit anpacken und Geflüchtete unterstützen, schaffen im Kleinen eine solidarische Alternative zur vom Hamburger Senat erzeugten Atmosphäre der Verelendung und Ablehnung. Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass und in welchem Ausmaß praktische Solidarität machbar ist und dass sie die Stadt nachdrücklich verändern kann, oder besser: bereits verändert hat! Diesen Herbst wollen wir uns weiter vernetzen, gemeinsam solidarische Alternativen ausbauen und dafür sorgen, dass die berechtigten Forderung von Geflüchteten nicht weiter ignoriert werden. Geben wir dem Hamburger Senat zu verstehen, dass es so nicht weiter geht! Wir akzeptieren keine Zeltlager oder Massenunterkünfte, keine Trennung in “gute” und “schlechte” Geflüchtete und keine Abschiebungen! Die Kämpfe um Bleiberecht, für guten Wohnraum, für politische und soziale Rechte werden weitergehen – mischen wir uns ein!